BELLETRISTIK


Dinçer Güçyeter: Unser Deutschlandmärchen (mikrotext)
Über das Buch
Dinçer Güçyeter zeichnet ein Familienporträt in kräftigen Farben, das vom Schicksal der Frauen erzählt, die seine eigene Biografie prägten: Hanife, die anatolische Nomadentochter und Mutter von Fatma, die sich dem Familienbeschluss beugt, nach Deutschland zieht und dort in einer Autozulieferungsfabrik zu arbeiten beginnt. In Träumen, Gebeten, Monologen, Dialogen und Chören wird die kollektive Hoffnung auf Ankunft, ein Zuhause und Zukunft seziert. UNSER DEUTSCHLANDMÄRCHEN ist eine wütende Suche nach einer eigenen Sprache und Heimat, ein Buch, dass das Anwerbeabkommen der Bundesrepublik in ein neues Licht stellt.
Zur Begründung der Jury
Mit eigener Sprache und lyrischer Innovation der Romanform erzählt Dinçer Güçyeter die Geschichte seiner Familie. Diese steht einerseits stellvertretend für viele so genannte "Gastarbeiter*innen", die Rassismus und unmenschliche Arbeitsbedingungen erleben. Andererseits verleiht Güçyeter den verschiedenen Erzählstimmen in seiner poetischen Sprache so viel Tiefe und Widersprüchlichkeit, dass man den Weg zur Künstlerwerdung des Ich-Erzählers atemlos begleitet.
Über den Autor
Dinçer Güçyeter, geboren 1979 in Nettetal, ist Theatermacher, Lyriker, Herausgeber und Verleger. Im Jahr 2012 gründete Güçyeter den ELIF VERLAG mit dem Programmschwerpunkt Lyrik. Seinen Verlag finanziert Güçyeter bis heute als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit. 2017 erschien AUS GLUT GESCHNITZT, und 2021 MEIN PRINZ, ICH BIN DAS GHETTO (beide im ELIF VERLAG). 2022 wurde Güçyeter mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet.
Leseprobe
Das Zittern der Gleise / Fatma
Die Nacht ist unendlich lang, wer ist dieser Mann neben mir, ist es mein Mann? Er zeigt sich sehr freundlich, schmunzelt grundlos, das nervt ein wenig. Für den nächsten Tag hat er sich frei genommen. Zusammen gehen wir einkaufen. Kaufen ein paar Sachen für das leere Haus. Wir brauchen unbedingt eine Teekanne sage ich beschämt. Die Straßen sind so sauber, man kann fast vom Boden essen. Die Nachbarn haben eine Kommode und einen Marmortisch vor die Tür gestellt, Yılmaz fragt, ob wir die Sachen haben dürfen, aber natürlich antwortet die ältere Frau, sie trägt eine blumengemusterte Schürze, sie schenkt mir eine Vase und drei Rosen, die Nachbarn sind nett. Doch etwas fehlt. Etwas, das den Knoten in mir fester zieht.
Wir finden keine Teekanne, keine Aubergine und auch keine Zucchini. In den Geschäften versucht Yılmaz, Deutsch zu reden. Ich verstehe zwar die Sprache nicht, höre aber, dass bei ihm auch nicht alles rund läuft. Er gackert, als ob er Kieselsteine im Mund kauen würde. Ich lache, lache noch mehr, meine Wangen glühen wie die Kohle im Ofen. Ich will nicht lachen, lache aber, kann mich nicht beherrschen, es liegt nicht in meiner Hand, ich lache …