BELLETRISTIK


Clemens J. Setz: Monde vor der Landung (Suhrkamp Verlag)
Über das Buch
Peter Bender, ehemaliger Fliegerleutnant des Deutschen Heeres, gründet Anfang der 1920er Jahre in Worms eine neue Religionsgemeinschaft und proklamiert die sogenannte Hohlwelt-Theorie: Nach seiner Auffassung lebt die Menschheit nicht auf, sondern in einer Kugel, außerhalb derselben existiert nichts. Bender stößt auf wenig Zuspruch und wird wegen der Verbreitung aufwieglerischer und gotteslästerlicher Flugschriften zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt. Nach der Machtergreifung wenden sich selbst seine engsten Gefolgsleute von ihm ab und nehmen auch die Repressionen gegen seine jüdische Frau zu. Das Leben endet für beide in Konzentrationslagern.
Zur Begründung der Jury
Im Zentrum von MONDE VOR DER LANDUNG steht kein Querdenker und auch nicht allein ein besessener Jünger der Hohl- oder Innenwelttheorie, sondern ein Mensch, der glücklich bei sich und seinem Weltbild bleibt und zugleich versehrt und einsam ist. In seiner zugespitzten Perspektive – ergänzt und gebrochen durch die Figur seiner Gefährtin – spiegelt sich fast beiläufig die Brutalität der Epoche und auch die der Gegenwart. Ein großer Wurf, insbesondere für die Möglichkeiten des historischen Romans.
Über den Autor
Clemens J. Setz, 1982 in Graz geboren, lebt als Übersetzer und freier Schriftsteller in Wien. Für Werke wie DIE LIEBE ZUR ZEIT DES MAHLSTÄDTER KINDES (2011), INDIGO (2012), DIE STUNDE ZWISCHEN FRAU UND GITARRE (2015, alle Suhrkamp) wurde Setz vielfach ausgezeichnet, etwa mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis und dem Kleist-Preis. 2021 wurde Clemens J. Setz mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt.
Leseprobe
DER BLICK DURCH LINSEN
Wer in Worms lebt, lebt auf dem Planeten Erde. Dieser befindet sich mitten im All und kreist dort, wie jedes Kind lernt, als riesige Kugel um eine noch größere Kugel aus Feuer. Im Jahr 1920 allerdings lebte unter den rund fünfzigtausend Wormser Bürgersleuten ein Mann, auf den nicht einmal das zutraf. Er wohnte zwar ebenfalls, wie sie alle, in Worms, aber darüber hinaus nicht auf, sondern in einer riesigen Erdkugel, und das bei vollem Bewusstsein und ohne Protest. Dabei bewegte er sich nicht etwa spiegelbildlich unterirdisch zu seinen Mitgeschöpfen dahin, nein, er existierte in direkter Nachbarschaft zu ihnen, verdingte und ernährte sich neben ihnen, kam ihnen sogar täglich in Kleidung und Hut auf der Straße entgegen. Ihn umgab dabei ein riesenhaftes und geschlossenes Erdenrund: der Hohlglobus. Wo andere Himmel und Sterne sahen, da sah er nur bläuliches Füllgas und bestenfalls apfelgroße Leuchtkörperchen; wo viele die nächste Galaxie vermuteten, da wusste er Australien. Mit Geschichten über Nord- oder Südpolexpeditionen konnte man ihn zur Raserei bringen.