SACHBUCH/ESSAYISTIK


Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus (Suhrkamp Verlag)
Über das Buch
Wer sind die politikverdrossenen Aufständischen, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse infrage stellen, Sprechverbote inszenieren und im Aufschrei nach freier und individueller Meinungsbildung keine Kompromisse akzeptieren? Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey untersuchen in einer beeindruckenden gemeinsamen Anstrengung den vielschichtigen Protesttyp des libertären Autoritarismus und erläutern ferner die sozialen Gründe, die zu einem Wandel des autoritären Charakters führten. Auf der Grundlage von Fallstudien analysieren sie Dynamiken und Folgen der spätmodernen Freiheitsversprechen und die Demokratiefeindlichkeit einer neuen Sozialfigur.
Zur Begründung der Jury
GEKRÄNKTE FREIHEIT ist ein Desiderat der Stunde: empirisch basierte Theoriebildung zur gegenwärtigen Verfasstheit der Gesellschaft. Ein Vorzug der Studie von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey ist, dass sie zwar ein spezielles Spektrum der Gesellschaft ins Auge fassen, ihre Thesen sich aber durchaus verallgemeinern und auf die Gesamtgesellschaft übertragen lassen. Im Ton nie herablassend, sondern immer grundlegend interessiert, trägt ihr Buch zu einer Versachlichung der Debatte bei.
Über die Autoren
Carolin Amlinger ist Literatursoziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Basel. Bei Suhrkamp erschien ihr Buch SCHREIBEN. EINE SOZIOLOGIE LITERARISCHER ARBEIT (2021). Oliver Nachtwey ist Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel und u. a. Autor der preisgekrönten Analyse DIE ABSTIEGSGESELLSCHAFT (Suhrkamp, 2016).
Leseprobe
Auch wir werden diese Fragen nicht endgültig klären können, präsentieren in diesem Buch aber Anhaltspunkte dafür, dass die Ursachen in der historischen Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften zu finden sind. In diesem Sinne betrachten wir den libertären Autoritarismus nicht als irrationale Bewegung gegen, sondern als Nebenfolge spätmoderner Gesellschaften. Ihr Versprechen der individuellen Selbstverwirklichung birgt ein Kränkungspotenzial, das in Frustration und Ressentiment umschlagen kann. Die Menschen, denen wir begegnet sind, verteidigen die Freiheit, ihre Freiheit – doch dies auf eine merkwürdig apodiktische, ja geradezu autoritäre Weise. Wir verstehen diesen libertären Autoritarismus als Symptom einer individualistischen Freiheitsidee, in der gesellschaftliche Abhängigkeiten abgewehrt werden. Freiheit ist in dieser Perspektive kein geteilter gesellschaftlicher Zustand, sondern ein persönlicher Besitzstand. Der libertär-autoritäre Protest richtet sich gegen die spätmoderne Gesellschaft, rebelliert aber im Namen ihrer zentralen Werte: Selbstbestimmung und Souveränität.