ÜBERSETZUNG

© Carmen Laux

Andreas Tretner übersetzte aus dem Russischen: "Wunderkind Erjan" von Hamid Ismailov (Friedenauer Presse)

Über das Buch

Durch die Weite der Steppe Kasachstans fährt ratternd ein Zug. In ihm begegnen sich ein Reisender und Erjan, das Wunderkind. Der Knabe spielt so virtuos auf seiner Violine, dass nicht nur dem Erzähler Hören und Sagen vergeht. Doch die Musik bleibt nicht das einzige Wunder. Denn der Junge, der aussieht wie zehn oder zwölf, ist in Wahrheit bereits ein Mann von 27 Jahren; als Kind tauchte er allen Warnungen zum Trotz in einen nuklear verseuchten See. Hamid Ismailov versetzt damit das BLECHTROMMEL-Motiv des Immer-Kind-Bleibenden in die Einöde des von Atombombentests verseuchten Kasachstan und gibt ihm eine enorme Intensität und herbe Schönheit.

Zur Begründung der Jury

Hamid Ismailov nimmt uns mit in eine apokalyptische Landschaft. Mit Gespür für semantische und rhythmische Details, für das Auf-und-Ab von menschlichen Derbheiten und Landschaftsbeschreibungen unter dem Eindruck ständiger Atomtests überzeugt Andreas Tretners Übersetzung.

Über den Autor

Andreas Tretner, 1959 in Gera geboren, übersetzt aus dem Russischen, Bulgarischen und Tschechischen u. a die Bücher von Michail Schischkin, Vladimir Sorokin und Viktor Pelewin. Für seine Übersetzungen erhielt er den Paul-Celan-Preis und den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt. WUNDERKIND ERJAN ist die erste Übersetzung Ismailovs in Deutsche.

Leseprobe

Der Zug rauschte durch die Steppe wie Erjans Bericht: unbeirrt, unaufhaltsam, ohne zu stocken. Und beide hatten sie nichts Bitteres an sich, nicht jene Form von Melancholie, wie alte Züge mit dampfenden Loks und kratziger Luft in den hinteren Waggons sie erwecken. Nein, das hier war eine Diesellok, sie fuhr zügig und ohne Schnaufen, kam selten zum Stehen.
Die nächsten zwei, drei Jahre in Erjans Leben ging scheinbar alles seinen Gang: Schule im Herbst, dann grimmiger Winter, wenn der Schnee die Tür des Hauses zuwehte und ihnen nichts weiter übrig blieb, als Tag und Nacht abwechselnd Geige und Dombıra zu spielen. Manchmal musste Erjan aus dem Seitenfenster klettern, um mit der bahneigenen Schaufel – es gab nur die eine – einen Weg durch die Schneewehen zu buddeln.
Aber auf den Musikwinter, so beschwerlich er war, folgte ein Frühling, wo sich die Musik aus seinem Innersten, aus der Tiefe des Zimmers nach draußen entladen wollte. Ergeben folgten er und Aısulu diesem Drang, ritten auf dem Esel erst einmal nicht in die Schule, sondern zu den Hügeln hinüber, wo Felder rotblühender wilder Tulpen sich wiegten wie Noten im Morgenrot.