ÜBERSETZUNG
Helga van Beuningen übersetzte aus dem Niederländischen: "Mein kleines Prachttier" von Marieke Lucas Rijneveld (Suhrkamp Verlag)
Über das Buch
MEIN KLEINES PRACHTTIER ist die Geschichte eines fast 50jährigen Tiermediziners und seiner »Auserwählten« – der jungen Tochter eines Bauern, auf dessen Hof der Arzt die Kühe behandelt. Eines Sommers finden die beiden zueinander. Er will sich von einem Trauma und seiner Einsamkeit befreien, indem er einer fatalen Obsession folgt, sie will der Enge der Provinz entkommen und sucht Geborgenheit und ihren Platz im Leben. Unter seiner Regie erschaffen sie sich eine aufregende Fantasiewelt, in der sie sein kann, wer und was sie will, einen gemeinsamen Kosmos mit eigenen Ritualen und Gesetzen, der streng geheim gehalten werden muss.
Zur Begründung der Jury
Wie mit absolutem Gehör begabt, lässt Helga van Beuningen die sprachlichen Register musikalisch ineinandergreifen, die für die beklemmende Attraktion von Marieke Lucas Rijnevelds Roman MEIN KLEINES PRACHTTIER sorgen. Ein deutsch-niederländisches Virtuos:innenstück.
Über die Autorin
Helga van Beuningen, geboren 1945 in Obergünzburg, studierte Englische und Niederländische Sprache in Heidelberg, wo sie anschließend 15 Jahre lang Niederländisch lehrte. Seit 1984 sind von ihr etliche Übersetzungen erschienen, u.a. von Cees Nooteboom. Ihre Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW 2021.
Leseprobe
Mein Augenstern, ich sag es dir besser gleich: Ich hätte
dich in jenem verbohrten Hochsommer wie ein Geschwür
mit dem Hufmesser aus der Klauenlederhaut schneiden
müssen, ich hätte Raum beim Zwischenklauenspalt schaffen
müssen, damit Mist und Dreck herausfallen und niemand
dich infizieren kann, vielleicht hätte ich dich mit dem Winkel-
schleifer nur etwas abtragen und nachfeilen müssen, mit etwas
Sägemehl säubern und trocken reiben. Wie um Himmels willen
konnte ich bloß die Warnung vergessen, die ich während meiner
Tierarztausbildung zum Thema Klauenbeschneiden und Erkrankun-
gen des Kronrands, Klauenseuche, Mortellaro-Krankheit, auch
Stinkfuß genannt, zu hören bekam, wie einem bis zum Gehtnichtmehr
eingebläut wurde, man müsse aufpassen, dass man nicht ins Leben
schneidet, verletze nie das Leben, hieß es ständig, aber ach, meine
Schwäche, meine Lahmheit! Du lagst in jenem störrischen Sommer
wie ein Kalb in Steißlage im Kreißsaal meines vergifteten Verlangens,
ich war der Handlanger des Wahnsinns, wusste nicht, wie ich dich
nicht hätte wollen können, dich, die himmlische Auserkorene,
und je öfter ich zwischen den dampfenden Leibern der Blaar-
koppen hockte und deine zwingende Anwesenheit unweit von mir
im Gras spürte, das frisch gemäht war und umrahmt von Gänsekresse,
wo du unter dem Birnbaum stundenlang über den Hals deiner schnee-
weißen Gitarre gebeugt ein Stück von den Cranberries übtest, umso
inständiger hoffte ich auf eine Labmagenverlagerung oder die Entfernung
einer Gewebewucherung, damit ich länger in deiner Nähe bleiben und hören
könnte, wie du wieder von vorn anfingst…