BELLETRISTIK
Emine Sevgi Özdamar: "Ein von Schatten begrenzter Raum" (Suhrkamp Verlag)
Über das Buch
Nach dem Putsch 1971 hält das Militär nicht nur das Leben, sondern auch die Träume der Menschen in der Türkei gefangen. Künstler:innen und Intellektuelle fürchten um ihre Existenz; auch die Erzählerin, die aus Istanbul nach Europa flieht. Im Gepäck: der Wunsch, Schauspielerin zu werden, und das Verlangen, den kulturellen Reichtum ihres Landes andernorts bekannt zu machen, ohne sich auf die Herkunft beschränken zu lassen. Und dort, inmitten des geteilten Berlin und in Paris, im Zwiegespräch mit Dichtern und Denkern, findet sie sich schließlich wieder in der »Pause der Hölle«, in der Kunst, Politik und Leben uneingeschränkt vereinbar scheinen.
Zur Begründung der Jury
Vom Osmanischen Reich über die deutsche und Pariser Theaterszene bis in die Gegenwart spannt Emine Sevgi Özdamar einen großen Bogen. Ihr Roman verdichtet die Erfahrungen einer europäischen Grenzgängerin zu einem poetischen und formalästhetischen Gedächtnisraum.
Über die Autorin
Emine Sevgi Özdamar wuchs in Istanbul auf, wo sie die Schauspielschule besuchte. Mitte der 70er-Jahre ging sie nach Berlin und Paris, arbeitete u.a. mit den Regisseuren Benno Besson, Matthias Langhoff sowie Claus Peymann und übernahm zahlreiche Filmrollen. Seit 1982 ist sie freie Schriftstellerin. Sie hat mehrfach ausgezeichnete Theaterstücke, Romane und Erzählungen verfasst, ihre Romane wurden in 12 Sprachen übersetzt.
Leseprobe
Plötzlich war ich wach. Geräusche hinter der Wand, als würde
ein Lastwagen immer wieder versuchen, durch die Wände
durchzukommen. Tiere rannten oben im Dachboden,
auch nebenan klopften Tiere mit ihren Füßen an die Wand.
Jemand weinte, wahrscheinlich die blinde Frau, die jeden
Morgen gegen vier Uhr vor ihrer offenen Haustür steht
und dem Wind zuhört. In diesem Moment sieht sie aus, als
ob sie sehen kann. Jede Nacht brennt die Lampe in ihrem
Zimmer. Sie sitzt auf ihrem Bett, manchmal schläft sie im Sitzen,
mit offenen Augen, und sieht, wenn sie so schläft, wieder
aus, als ob sie sehen kann. Wenn sie träumt, sieht sie wieder,
weil sie erst mit zwölf blind geworden ist. Die Bilder, die sie
zwölf Jahre gesehen hat, sind nicht mit ihr blind geworden.
Sie haben sich jetzt nur von den zu schwarzer Leere gewordenen
Gassen und Zimmern in die Träume der blinden Frau
zurückgezogen. Jetzt kamen wieder die Geräusche, als ob
ein Lastwagen hinter der Wand stünde und sich immer wieder
vorwärtsbewegte, um durch die Wand zu fahren. Nach
jedem Geräusch rieselten Staub und verfaultes Reisig von
der alten Zimmerdecke, wo die Deckenbalken mit der Zeit
morsch geworden und auseinandergegangen waren.
Ich ging hinunter in die Küche.
Das Morgenlicht draußen, das mit einem Bein noch in der
Nacht stand, hatte sich durch die Fenster über den Tisch und
die Stühle schon hingesetzt und mit seinem traurigen Schatten
die Küche aus dieser Welt getrennt, um diesen Ort wieder
den Toten zu geben, die einmal hier gewohnt hatten.