SACHBUCH/ESSAYISTIK

© Ekko von Schwichow

Christiane Hoffmann: "Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters" (Verlag C.H.Beck)

Über das Buch

Christiane Hoffmanns Vater floh 1945 aus Schlesien. Nach seinem Tod reist die Tochter in sein Heimatdorf, das jetzt Rózyna heißt. Von dort bricht sie auf und wandert den Weg seiner Flucht nach. Christiane Hoffmanns Buch fragt danach, was heute vom Fluchtschicksal bleibt und wie Familien und Gesellschaften in Europa mit der Vergangenheit umgehen. Es holt die Erinnerung an Flucht und Vertreibung ins 21. Jahrhundert, indem es ihre Familiengeschichte mit der Historie, Zeitzeugenberichte mit Begegnungen auf ihrem Weg verschränkt. Doch es ist vor allem ein sehr persönliches Buch, die Annäherung einer Tochter an den Vater und seine Geschichte.

Zur Begründung der Jury

Christiane Hoffmann macht sich auf den Weg ihres aus Schlesien geflohenen Vaters, um auch emotional zu verstehen, was damals geschah. Ihre bewegende Rekonstruktion erzählt einnehmend klar von den Ambivalenzen und Bruchlinien im deutsch-polnisch-russischen Verhältnis.

Über die Autorin

Christiane Hoffmann ist Erste Stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung. Sie studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Journalistik in Freiburg, Leningrad und Hamburg und arbeitete fast 20 Jahre für die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG und berichtete als Auslandskorrespondentin aus Moskau und Teheran. Anfang 2013 wechselte sie als stellvertretende Leiterin ins Hauptstadtbüro des SPIEGEL.

Leseprobe

Gegen acht Uhr morgens gehe ich los. Nach wenigen Schritten liegt das Dorf hinter mir, die grauen Häuser und die bunten, die verlassenen Häuser und die, in denen nur noch eine Alte lebt, die Häuser mit den jungen Familien, die Scheunen mit den eingefallenen Dächern und der helle Kirchturm. Das Dorf bleibt zurück wie es so oft zurückgeblieben ist, still und ergeben und voller Erbarmen für die Menschen, die fortmüssen, hierhin und dorthin. […]
Als Ihr damals aufgebrochen seid, war die Straße nach Lossen tief verschneit, die Luft eisig, sicher zwanzig Grad kälter. Es muss schon dunkel gewesen sein, nachmittags gegen fünf. Hinter Euch hörtet Ihr die sowjetische Artillerie über die Oder schießen, die Russen, wie Du immer sagtest. […]

Es ist immer möglich zu gehen, es ist unmöglich anzukommen, wir werden nie wieder Wurzeln schlagen bis in die dritte Generation, wir werden nie wieder zu Hause sein. Wir werden uns allenfalls vorübergehend niederlassen hier oder da, wie eine Wanderin auf einer kalten Bank im Winter, immer bereit, weiterzuziehen, loszulassen. Alles. Sogar das Leben. In Sicherheit ist nur, wer keinen Schmerz mehr fühlt. Ich habe mich auf diesen Weg nicht vorbereitet, so wie Ihr Euch nicht vorbereiten konntet. Ich schaue, was auf mich zukommt. Wie hätte ich mich vorbereiten können?

Ich werde dieses verfluchte zwanzigste Jahrhundert aus mir herauslaufen, aus uns allen, ich werde alles erinnern und alles vergessen, und am Ende meines Weges werden wir frei sein, heil.