Unsere Preisträger:innen 2023

Leipziger Messe / Stefan Hoyer

465 Werke wurden im letzten Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung eingereicht. Drei Autor:innen wurden mit dem Preis geehrt: Dinçer Güçyeter, Regina Scheer und Johanna Schwering. Entdecken Sie die meisterhaften Werke und ihre Macher:innen. Viel Freude beim Lesen!

Preisträger:innen

BELLETRISTIK

© palagrafie

Dinçer Güçyeter: Unser Deutschlandmärchen (mikrotext)

Über das Buch

Dinçer Güçyeter zeichnet ein Familienporträt in kräftigen Farben, das vom Schicksal der Frauen erzählt, die seine eigene Biografie prägten: Hanife, die anatolische Nomadentochter und Mutter von Fatma, die sich dem Familienbeschluss beugt, nach Deutschland zieht und dort in einer Autozulieferungsfabrik zu arbeiten beginnt. In Träumen, Gebeten, Monologen, Dialogen und Chören wird die kollektive Hoffnung auf Ankunft, ein Zuhause und Zukunft seziert. UNSER DEUTSCHLANDMÄRCHEN ist eine wütende Suche nach einer eigenen Sprache und Heimat, ein Buch, dass das Anwerbeabkommen der Bundesrepublik in ein neues Licht stellt.

Zur Begründung der Jury

Traditionell wie innovativ queer erzählt, reißt einen diese Einwanderergeschichte mit ihrer Emotionalität und großen politischen Bedeutung von Anfang an mit. Der Roman blickt auf deutsche und europäische Verhältnisse, lässt die Worte zum Himmel fliegen, spart aber gleichzeitig die Demütigungen am Boden nicht aus. Dinçer Güçyeter fängt Geschichten mit einem Netz ein, das feiner gewebt ist als ein Schmetterlingskescher, kann schmerzliche Momente in komische verwandeln und hat uns mit „Unser Deutschlandmärchen“ einen mehrstimmigen Roman geschenkt, dessen poetischer Chor noch weiterklingen wird.

Über den Autor

Dinçer Güçyeter, geboren 1979 in Nettetal, ist Theatermacher, Lyriker, Herausgeber und Verleger. Im Jahr 2012 gründete Güçyeter den ELIF VERLAG mit dem Programmschwerpunkt Lyrik. Seinen Verlag finanziert Güçyeter bis heute als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit. 2017 erschien AUS GLUT GESCHNITZT, und 2021 MEIN PRINZ, ICH BIN DAS GHETTO (beide im ELIF VERLAG). 2022 wurde Güçyeter mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet.

Leseprobe

Das Zittern der Gleise / Fatma

Die Nacht ist unendlich lang, wer ist dieser Mann neben mir, ist es mein Mann? Er zeigt sich sehr freundlich, schmunzelt grundlos, das nervt ein wenig. Für den nächsten Tag hat er sich frei genommen. Zusammen gehen wir einkaufen. Kaufen ein paar Sachen für das leere Haus. Wir brauchen unbedingt eine Teekanne sage ich beschämt. Die Straßen sind so sauber, man kann fast vom Boden essen. Die Nachbarn haben eine Kommode und einen Marmortisch vor die Tür gestellt, Yılmaz fragt, ob wir die Sachen haben dürfen, aber natürlich antwortet die ältere Frau, sie trägt eine blumengemusterte Schürze, sie schenkt mir eine Vase und drei Rosen, die Nachbarn sind nett. Doch etwas fehlt. Etwas, das den Knoten in mir fester zieht.

Wir finden keine Teekanne, keine Aubergine und auch keine Zucchini. In den Geschäften versucht Yılmaz, Deutsch zu reden. Ich verstehe zwar die Sprache nicht, höre aber, dass bei ihm auch nicht alles rund läuft. Er gackert, als ob er Kieselsteine im Mund kauen würde. Ich lache, lache noch mehr, meine Wangen glühen wie die Kohle im Ofen. Ich will nicht lachen, lache aber, kann mich nicht beherrschen, es liegt nicht in meiner Hand, ich lache …

SACHBUCH/ESSAYISTIK

© Kathrin Burghardt

Regina Scheer: Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution (Penguin Verlag)

Über das Buch

Regina Scheer blickt zurück auf das beeindruckende Leben von Herta Gordon-Walcher. Die Jüdin ist in den 20er-Jahren Sekretärin von Clara Zetkin. Gemeinsam mit ihrem Mann schließt sie sich den Sozialisten an und kämpft für eine gerechtere Welt. Umgeben von widerständigen Größen wie Rosa Luxemburg, Wilhelm Pieck, Bertolt Brecht und Willy Brandt erlebt sie hautnah das Erstarken des Nationalsozialismus. Es folgen Flucht und Exil. Regina Scheer hat zwanzig Jahre lang mit Herta Walcher gesprochen; empathisch erzählt sie von ihrem entbehrungsreichen Leben für eine große Idee und macht dabei den weiblichen Anteil linker Bewegungsgeschichte sichtbar.

Zur Begründung der Jury

Mit „Bittere Brunnen“ zeichnet Regina Scheer das außergewöhnliche wie exemplarische Leben von Hertha Gordon-Walcher nach und erzählt damit gleichzeitig eine Chronik der sozialistischen und feministischen Bewegungen im 20. Jahrhundert. „Bittere Brunnen“ geht dabei weit über eine gewöhnliche Biographie hinaus: Meisterlich und transparent verwebt die Autorin historische Recherchen mit persönlichen Erinnerungen. Geholfen hat ihr dabei ihr meisterliches Gedächtnis, mit dem sie Stück für Stück eine Sammlung erstellte. Dieses erzählende Sachbuch steht für große Offenheit im Umgang mit Brüchen, Ungereimtheiten und Leerstellen unseres Wissens um Lebensläufe – und ist eine genaue Dokumentation politischer Zusammenhänge, deren Spuren die Gegenwart prägen.

Über die Autorin

Regina Scheer arbeitet freiberuflich als Autorin und Herausgeberin. Sie veröffentlichte mehrere Bücher zur deutsch-jüdischen Geschichte. Ihre ersten beiden Romane „Machandel“ (Knaus Verlag, 2014) und „Gott wohnt im Wedding“ (Penguin, 2019) waren große Publikumserfolge. Für „Machandel“ erhielt sie 2014 den Mara-Cassens-Preis.

Leseprobe

Sie bereiteten sich jetzt auf die Illegalität vor, Hertha erinnerte sich der klandestinen Techniken, die man ihr in Moskau beigebracht hatte, und gab sie an ausgewählte Genossen weiter, denen sie zeigte, wie unsichtbare Tinte hergestellt wird, wie Dokumente vervielfältigt werden können und wie man fotografierte Bilder so komprimiert, dass sie nur noch als winziger Punkt erscheinen, bevor man sie wieder vergrößert. Auch Pässe zu präparieren, war eine Technik, die sie gelernt hatte, wahrscheinlich als sie für Felix Wolf und den Kurierdienst des »Dicken« arbeitete oder als sie auf den nie realisierten Einsatz in Java oder sonst wo vorbereitet wurde.

Das Jahr 1933 begrüßten sie bei Minna Flake in Wilmersdorf, aber es kam keine fröhliche Stimmung auf. Hertha hatte nächtelang durchgearbeitet und war müde, wollte eigentlich lieber schlafen, auch Jacob konnte seine Sorgen nicht verbergen. Jeder der Freunde, die da zusammenkamen, ahnte, dass es ein letztes Mal sein könnte, bedrückt waren sie alle, obwohl sie doch immer so gern gefeiert und gelacht hatten. Am 30. Januar 1933 war Hitler Reichskanzler. Aber noch schien alles offen, noch lebten sie in einer zwar angeschlagenen und brüchigen, aber doch in einer Demokratie

ÜBERSETZUNG

© Sibylle Baier

Aus dem argentinischen Spanisch von Johanna Schwering: Aurora Venturini: Die Cousinen (dtv)

Über das Buch

Argentinien, in den 1940er-Jahren: In Yunas Familie ist das Geld knapp. Sie lebt gemeinsam mit ihrer strengen alleinerziehenden Mutter und ihrer schwerbehinderten Schwester in La Plata. Wegen einer Lernschwäche wird sie als einfältig abgestempelt. In der Malerei findet Yuna schließlich Ausdrucksmöglichkeiten und Anerkennung. Doch an der Kunsthochschule erwarten sie neue Probleme: Lüsterne Männer, die das Verhältnis zu ihren Cousinen bedrohen. Mit 85 Jahren hat Aurora Venturini einen hinreißenden Coming-of-Age-Roman geschrieben. Johanna Schwering ist es zu verdanken, dass dieser nun auch im deutschen Sprachraum verfügbar ist.

Zur Begründung der Jury

Schmuddelliese – Worte, die wir längst vergessen glaubten – zaubert Schwering wieder ans Licht oder führt neue ein, die noch nie gehört auf Anhieb einleuchten: Stilletümpel. Ihre Worte schaffen Atmosphären und lassen uns den Geruch der Großstadt, das Ozon und die Orangenblüte aus den Buchseiten herausriechen. Schwerings Übersetzung nimmt die Unverschämtheiten des Originals mutig auf und folgt den eigentümlichen Grammatikregeln des Originals sowie seiner besonderen Härte und seinem sprühenden Witz. Ihr ist es mitzuverdanken, dass mit diesem fabelhaften Künstlerinnenroman erstmalig ein Buch der Argentinierin Aurora Venturini auf Deutsch vorliegt. Es mögen hoffentlich viele weitere, natürlich in der Übersetzung von Johanna Schwering, folgen.

Über die Autorin

Johanna Schwering, geboren 1981 in Hamburg, arbeitet als freie Lektorin und Übersetzerin aus dem Spanischen und hat Lyrikbände von Maricela Guerrero und Legna Rodriguez Iglesias ins Deutsche übertragen. Ihre Übersetzung von Maricela Guerreros Gedichtband REIBUNGEN erhielt 2018 eine Lyrik-Empfehlung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Stiftung Lyrik Kabinett und des Hauses für Poesie.

Leseprobe

Ich sagte ja schon, dass ich im Innern meiner Psyche Details und Formen erkennen konnte, da war ich ganz anders als die Dumme die nach außen hin ohne Punkt und Komma sprach weil sie bei jedem Punkt und Komma den Faden verlor. Manchmal machte ich einen Punkt oder ein Komma zum Atmen aber ich redete lieber ohne Punkt und Komma um verstanden zu werden und vermied Stilletümpel die meine Unfähigkeit zur mündlichen Kommunikation aufdecken würden denn wenn ich mir selbst zuhörte, verwirrten mich die Geräusche in meinem Kopf und das zischende Fließen der Wörter und dann verstummte ich mit offenem Mund und dachte, dass es dicke Wörter gibt und dünne, schwarze Wörter und weiße, beschränkte und besonnene Wörter und dann noch solche die im Wörterbuch schlafen und von niemandem benutzt werden. Hier habe ich zum Beispiel Kommas benutzt. Und Punkte. Aber jetzt muss ich raus in den Hof einmal durchatmen und ein innerliches Selbstgespräch führen im Hof wo in den Beeten am Rand diese Blumen wachsen die sehr viele rote Blüten haben, sehr, sehr, sehr viele und die heißen Fleißige Lieschen (…).

Ihr Ansprechpartner

Felix Wisotzki
Pressesprecher