Die Preisträger:innen vom Preis der Leipziger Buchmesse 2024

Grafik mit dem Logo vom Preis der Leipziger Buchmesse 2024 auf dunkelrotem Hintergrund und einer gezeichneten Hand, die anstelle von Fingerspitzen verschiedene Schreibutensilien zeigt

486 Werke wurden im letzten Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung eingereicht. Drei Autor:innen wurden mit dem Preis geehrt: Barbi Marković, Tom Holert und Ki-Hyang Lee. Entdecken Sie die meisterhaften Werke und ihre Macher:innen. Viel Freude beim Lesen!

Preisträger:innen

BELLETRISTIK

Portraitfotografie von Barbi Markovic
© Apollonia Theresa Bitzan
Cover des Buchtitels "Mini Horror"

Barbi Marković: Minihorror (Residenz Verlag)

Über das Buch

Mit dem Paar Mini und Miki tauchen wir ein in den alltäglichen Horror des städtischen Lebens. Die beiden sind nicht von hier, bemühen sich dazuzugehören und alles richtig zu machen. Trotzdem – oder gerade deswegen – werden sie verfolgt von Gefahren und Monstern, von Katastrophen und allerlei Schwierigkeiten… Tragikomisch und abgründig sind die Geschichten, die die beiden erleben. Barbi Markovićs Prosa besticht durch ihren ironischen Unterton, der nicht nur hinter die Fassaden blicken lässt, sondern auch die Zerbrechlichkeit ihrer Figuren entlarvt. Das sorgt für reichlich wahnwitzige Überraschungsmomente, in denen die sogenannte Wirklichkeit häufig ins surreal Phantastische kippt.

Zur Begründung der Jury

Rasant, seriell und pop-affin – so ist Barbi Markovićs neues Buch, das man wie im Rausch ohne Unterbrechung an einem Stück lesen will. Denn der Genuss ihrer witzigen und scheinbar so einfachen Sätze, die die absurde Fallhöhe zwischen Alltag und existenzieller Weltlage ausmessen, soll bitte nicht enden. Barbi Markovic erzählt hinreißend komisch und bitterernst von unserer Gegenwart: hinten die Kriegsverbrechen, vorne der Klimawandel, dazwischen die Banalität unseres tagtäglichen Lebens. In „Minihorror“ enttarnt Barbi Marković das Unheimliche jeder noch so harmlosen Situation, den Horror im Alltag, den Grusel vor der eigenen Familie. Dabei wird der Mensch im Spätkapitalismus notgedrungen zur Witzfigur.

Über die Autorin

Barbi Marković, geboren 1980 in Belgrad, studierte Germanistik und arbeitete zunächst als Lektorin. 2009 erhielt Marković viel Beachtung für »Ausgehen« (Suhrkamp), eine Übertragung der Thomas-Bernhard-Erzählung »Gehen« in die Belgrader Clubszene. 2011/2012 war sie Stadtschreiberin von Graz. 2016 erschien der Roman »Superheldinnen« beim Residenz Verlag, für den sie den Literaturpreis Alpha, den Förderpreis des Adelbert-von-Chamisso-Preises sowie 2019 den Priessnitz-Preis erhielt. 2017 las Barbi Marković beim Bachmann-Preis. Es folgten zahlreiche Kurzgeschichten, Theaterstücke und Hörspiele. 2023 erhielt Barbi Marković den Kunstpreis Berlin für Literatur.

Leseprobe

Mini stellt sich sonst immer der niederschmetternden Ambivalenz des Lebens, sie zieht sich vor dem Absurden nicht zurück, sie nimmt keine Schmerzmittel, glaubt nicht an Gott und backt keine Kekse, obwohl sie Angst hat wie alle anderen auch. Doch dieses Jahr war in vieler Hinsicht anders. Wegen der Pandemie sind Urlaube und Konferenzen ausgefallen. Menschen haben sich anpassen müssen. Miki und Mini besuchen Mikis Eltern in einer österreichischen Kleinstadt, wo zur Zeit ihrer Ankunft schon Schnee auf den Dächern liegt. Der Vorweihnachtsmarkt ist voll.

»Alles duftet«, sagt eine begeisterte Person am Glühweinstand.

Tatsächlich riecht Mini übertriebene Mengen an Zimt in allen Produkten.

»Mini, des passt guat, des isch fein«, sagt Miki, um seiner Freundin die lokale Sprechweise zu demonstrieren.

»Guat«, versucht Mini. »Guat, guat, guat, guat, guat«

Sie muss noch viel üben, bis das richtig rüberkommt.

SACHBUCH/ESSAYISTIK

Portraitfotografie von Tom Holert
© Arthur Zalewski
Cover des Buchtitels "ca. 1972"

Tom Holert: „ca. 1972“ Gewalt – Umwelt – Identität – Methode (Spector Books)

Über das Buch

Im Zentrum des Text-/Bild-Essays steht das Jahr 1972, das nach der revolutionären Euphorie von 1968 einen Wendepunkt markierte: Das Vertrauen in die Nachkriegsordnung und die Fortschrittsmechanik der Moderne wich einer Atmosphäre von Ernüchterung, Verbitterung und Angst. Der Berliner Kunsthistoriker Tom Holert diagnostiziert die vielschichtigen und gegensätzlichen Aufschübe, Aufbrüche und Ausschweifungen dieser Zeit, die nicht linear in einer ereignishistorischen Erzählung dargestellt werden können, sondern als räumlich-zeitliche Konstellation, als Gefüge kultureller, intellektueller und ästhetischer Zusammenkünfte und Zusammenbrüche. Ein Ausgangspunkt ist die visuelle Kultur der Zeit: Fotografien, Filme, Bücher, Zeitschriften, Werke bildender Kunst bezeugen das Denken und Handeln radikaler Zeitgenoss:innen.

Zur Begründung der Jury

Tom Holert widmet sich dem Zeit-Raum „ca. 1972“ und seinen politischen und ästhetischen Avantgarden. Sein überbordender Text-Bild-Essay stellt Gewalt, Ökologie und Identität in einen aufregenden methodischen Zusammenhang. Holert gelingt dabei, was man sich von vielen schreibenden Vertreter:innen auf beiden Seiten aller Literaturpreise wünschen würde. Indem er seine Position als Autor benennt, reflektiert und sie sichtbar macht, ohne sich selbst in diese kulturellen Objekte und ihre Geschichte einzuschreiben, leistet er seinen klugen Teil der Arbeit auf dem Weg zu einem 2024 leider immer noch utopischen Ziel: einer sozialen, globalen, ökologisch und geschlechtlich gerechteren Welt.

Laudatio auf Tom Holert (PDF, 98 kB)

Über den Autor

Tom Holert, geboren 1962 in Hamburg, hat Kunstgeschichte studiert, für Zeitschriften gearbeitet (Texte zur Kunst, Spex), an Hochschulen gelehrt (u. a. Akademie der bildenden Künste Wien; Freie Universität Berlin; HFBK Hamburg) und Ausstellungen organisiert (u. a. im HKW Berlin). Holert ist Gründungsmitglied des Harun-Farocki-Instituts in Berlin und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter »Entsichert. Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert« (2002), »Fliehkraft: Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen« (2006, beide bei Kiepenheuer & Witsch) und »Politics of Learning, Politics of Space. Architecture and the Education Shock of the 1960s and 1970s« (De Gruyter, 2021).

Leseprobe

„ca. 1972“ war der historische Horizont der Moderne dabei, seine orientierende Funktion zu verlieren. Die Leuchtfeuer des Fortschritts verblassten, politische Projekte kamen an ihr Ende. Gleichzeitig betraten neue, zuvor ausgegrenzte Akteure mit ihren Identitäten, Organisationsformen und Politikstilen die Bildfläche. Alternative Kartografien einer „dritten“ und „vierten“ Welt wurden sichtbar. Das Schicksal der „Umwelt“ und des Planeten rückte auf die Agenda. Aus den Blickwinkeln heraus, die dieses Buch einnimmt, erscheint „ca. 1972“ daher auch als ein Raum aktivistischer Konjunkturen und ästhetischer Energien, der Entgrenzung und Rekonfiguration, ungeeignet, arretiert und vereindeutigt zu werden. Dieser Befund kann frustrieren, weil er keine Lektion, kein kompaktes Wissen bereithält. Aber genauso gut eignet ihm etwas Euphorisierendes, weil er auf die Potentialität seines historischen Gegenstands über dessen vermeintliche Zeit und deren Horizonte hinaus verweist.

ÜBERSETZUNG

Portraitfotografie von Ki-Hyang Lee
© privat
Cover des Buchtitels "Der Fluch des Hasen"

Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
Bora Chung: Der Fluch des Hasen (CulturBooks)

Über das Buch

„Der Fluch des Hasen“ spielt mit einer Vielzahl literarischer Formen und Stimmen. Vom magischen Realismus über Horror bis hin zur Spekulativen Fiktion arbeitet die südkoreanische Autorin Bora Chung fernab jeder Schublade. Ki-Hyang Lee hat die zehn geistreichen Kurzgeschichten ins Deutsche übersetzt und dabei sowohl für den hintersinnigen Humor als auch für die Schilderungen des realen Schreckens eine passende Übertragung gefunden. Wie der Hase schlagen auch die Erzählungen Haken; voller blitzgescheiter Wendungen scheinen dabei unter jeder noch so alltäglichen Situation die Grausamkeiten unserer modernen Zeit hervor.

Zur Begründung der Jury

Das Unheimliche und Monströse laufen bei der gesellschaftskritisch versierten Koreanerin Bora Chung zu großer Form auf. Ki-Hyang Lee ist es zu verdanken, dass ihre Geschichten auch auf Deutsch abgründig funkeln. In der pointierten und leicht neben die Norm gesetzten Sprache, die Ki-Hyang Lee den Texten von Bora Chung verleiht, haben sie eine zitternde Offenheit für das Neue und Unerwartete. Das Niedliche und das Widerliche kommen uns daraus entgegen. Wir erleben die Liebe, wie sie sich in einer nahen Zukunft womöglich anfühlen wird. Übersetzen bedeutet dabei auch, von beweglichen Standpunkten aus zu denken: Was ist nah und was fern, was selbstverständlich und was fremd. In diesem Buch werden Fremdsprachen gesprochen, und die Übersetzung spielt mit deren Rolle. Dass wir den Reichtum der südkoreanischen Gegenwartsliteratur erleben können, ist ein großer Verdienst von Ki-Hyang Lees unermüdlicher Arbeit.

Über die Autorin

Ki-Hyang Lee, geboren 1967 in Seoul, studierte Germanistik, Pädagogik und Japanologie in Seoul, Würzburg und München. Sie lebt in München, arbeitet dort als Dozentin an der Universität und ist Übersetzerin und Verlegerin des Märchenwald Verlags. Zu ihren zahlreichen Übersetzungen zählen Han Kangs »Die Vegetarierin« (Aufbau, 2017), Cho Nam-Joos »Kim Jiyoung, geboren 1982« (Kiepenheuer & Wietsch, 2021) oder Kim Hye-Jins »Die Tochter« (Hanser, 2022), dazu übersetzte sie Autor:innen wie Hwang Sun-Won, Jooyoung Kim, I-Seol Kim, Haemin Sunim, Sung-U Lee, Do Hyun Ahn, Song Sok-ze, Jong-Rae Jo u. a.

Leseprobe

»Gegenstände, die dafür bestimmt sind, mit einem Fluch belegt zu werden, sollten besonders hübsch sein«, pflegte mein Großvater zu sagen.

Und die Lampe war ausgesprochen niedlich. Sie hatte die Form eines Hasen, der unter einem Baum sitzt. Der Baum wirkte etwas plump, aber der Hase war mit großer Sorgfalt ausgestaltet. Die Spitzen der Ohren und das Schwänzchen waren ebenso tiefschwarz wie seine Augen, sodass sich der Körper schneeweiß dagegen abhob. Er bestand aus einem harten Material, aber das rosa Schnäuzchen und das Fell waren ganz fein und sorgfältig gearbeitet, um den Anschein von Weichheit zu vermitteln. Schaltete man die Lampe an, erstrahlte der Körper hell, und man glaubte für einen Augenblick, der Hase wäre lebendig und würde jeden Moment das Näschen rümpfen. Jeder Gegenstand hat seine Geschichte. Da stellt dieser hier keine Ausnahme dar, ganz besonders, weil er verflucht ist.

Laudatio Belletristik

PLBM24_Rede_Insa_Wilke (PDF, 98 kB)