BELLETRISTIK

© Hanke Wilsmann

Dietmar Dath: "Gentzen oder: Betrunken aufräumen. Kalkülroman" (Matthes & Seitz Berlin)

Über das Buch

Der Logiker Gerhard Gentzen zählte zu den genialsten seines Fachs. Doch wer kennt ihn noch? Dietmar Dath macht sich in diesem mitreißenden Roman mit Laura und Jan auf die Suche nach jemandem, an den sie sich nicht mehr erinnern. Der Leser betritt einen Denkraum, in dem nicht nur Gentzen aufritt, sondern auch noch ganz andere Figuren: Dietmar, der seit zehn Jahren an einem Roman über einen berühmten Logiker schreibt, aber auch Frank Schirrmacher, der sich den Kopf über das Internet zerbricht, Jeff Bezos, Ruth Garrett Millikan, eine schiefe Tante und ein geheimnisvolles Wesen, das das Leben auf der Erde erheblich in Gefahr bringen wird.

Zur Begründung der Jury

Aus der spannenden Suche nach dem Erbe des Mathematikers Gentzen entwickelt Dietmar Dath ein großes Panorama unserer Gegenwart zwischen Autofiktion und Science Fiction. Sein »Kalkülroman« fragt eindringlich: Wie können wir denken und was sollen wir tun?

Über den Autor

Dietmar Dath, 1970 in Rheinfelden geboren, ist Autor, Journalist und Übersetzer. Spätestens seit dem Roman DIE ABSCHAFFUNG DER ARTEN (Suhrkamp, 2008) ist er einem großen Publikum bekannt. Er veröffentlichte etliche Romane, außerdem Bücher und Essays zu wissenschaftlichen, ästhetischen und politischen Themen, Theater- und Hörstücke sowie Lyrik. Zuletzt wurde er mit dem Reinhold-Schneider-Preis 2020 ausgezeichnet.

Leseprobe

Er isst nicht genug. Diejenigen, die ihn eingesperrt haben und bewachen, geben ihm kaum Essbares und nur sehr wenig Wasser. Die Arbeit, zu der sie ihn zwingen wollen, kann er nicht länger tun. Appetit hat er keinen mehr, aber immer schlimmeren Hunger. Er versteht genug von sich und seinen Zuständen, um Appetit und Hunger zu unterscheiden, weil er klug ist. Diese Klugheit nützt ihm aber nichts. Er weiß seit Tagen, dass er an seinem Hunger wird sterben müssen.
Der Magen tut ihm weh. Er spürt, wie seine Glieder schwächer werden. Oft ist ihm übel. Er weiß, dass das, wie die medizinische Wissenschaft sagt, von periodisch-tonischen Kontraktionen des leeren Magens kommt. Er friert manchmal, dann ist ihm wieder fiebrig heiß. Die grob gemauerte Wand, auf die er seine gesunde Hand legt, ist kalt und feucht. Diese Kühle beruhigt ihn. Beruhigung aber schadet ihm. Auch das weiß er. Die Kühle ist blau wie kupfernes Erz, das er einmal in der Hand gehalten hat, vor Jahren. Sinne und Sinn des Gefangenen blühen ineinander wie Träume oder verkettete Lügen.